Wöflin, Wolf

von Christine T.

Auch wenn ich denke, ich wüsste schon einiges über den Wolf, merke ich, dass ich im Grunde genommen nichts weiß! Sogar so ein Mensch wie Kenny Kenner, der sich nun schon seit zehn Jahren mit dem Wolf befasst, der eine Ausbildung zum Wolfsberater absolviert hat, und die große EU-Bürokratie in Brüssel, bei der alles europäische Wolfswissen zusammengetragen wird, sie alle sind der Meinung, dass sie nicht genug über den Wolf wissen.
Deswegen wird für teures Geld alles Mögliche über den Wolf – und seine Wölfin natürlich – zusammengetragen: Seine Losung wird aufgesammelt (möglichst frisch!), fotografiert, gewogen, gewaschen, eingetütet, alkoholisiert, analysiert, frisiert, befunden, aufgeteilt, vervielfältigt und alles zu Papier gebracht, ausgedruckt, an 27,5 europäische Regierungen verschickt, dort verteilt an die zuständigen Ministerialbeamten samt ihren wolfskundigen, wolfshungrigen, Wolfswissen sammelnden Untergebenen.
Es gibt Wolfssender, Wolfs-Monitoring, Wolfsfallen, Satelliten melden seine Position. Wo ist er? Wer ist der Wolf? Wer bin ich, die denkt, sie möchte etwas über den Wolf erfahren?
Lasst mich doch mit dem Wolf in Ruh, sonst muss ich mich den bürokratischen Ergebnissen beugen ... Ich hatte eine kurze Freundschaft mit einer halben Wölfin, die, obwohl sie eine Frau war, einen Männernamen, Paco, bekommen hatte. Für eine kurze Zeit gehörte ich zu ihrem Rudel – oder sie zu meinem? –, ich durfte ihre Ersatzmutter sein. Sie war die Tochter eines bolivianischen Wolfes und einer belgischen Schäferhündin. Solange sie ein Kind war, konnte sie ihre kleinen spitzen Ohren nur aufrichten, wenn sie vollkommen hellwach war. Wurde sie jedoch müde, fielen ihre Ohren, nacheinander, wie spitze kleine Tulpenblätter, nach vorne auf ihren Kopf. 
Mit zunehmendem Alter entwickelte sie eine Kraft zu laufen, bei der man den Eindruck gewinnen konnte, ihre Läufe würden auf den Boden trommeln. Jede ihre Begrüßungen war ein Schauspiel von List und Geschicklichkeit. Sie wollte unbedingt Nase oder Mund, am liebsten beides lecken. Sie führte solange Freudentanz, geschmeidiges Springen, Bellen auf, bei dem meine Wachsamkeit irgendwann erlahmte, weil ich ihr voll Freude zusah, bis sie in einem unerwarteten Moment hochschoss und leckte, erst dann war das Begrüßungsritual vollkommen.
Noch heute sehe ich sie vor mir.
Sie konnte mir lange unverwandt in die Augen sehen, vor mir liegend, hingegeben, zugleich wachsam und bereit für das nächste Spiel. Neigte ich dann meinen Kopf zur Seite, tat sie das gleich, fast als wären unsere Blicke verschmolzen. Tat ich Gleiches zur anderen Seite, folgte ihr Kopf mir im gleichen Takt.
Am meisten liebte sie ausgiebige lange Wanderungen durch die Feldmark. Auf Wegen machte ich mir einen Spaß daraus, sie zu überlisten, wenn sie übermütig und pfeilschnell voraussauste. Mich hinter einen dicken Baum oder einen Strauch duckend, wartete ich und wurde nie enttäuscht, denn sie kontrollierte ständig, ob ich ihr auch folgte. Konnte sie mich nicht entdecken, raste sie in hohem Tempo zurück, nicht ohne jaulende, japsende Laute auszustoßen – drückten sie ihre Furcht, verlassen worden zu sein, aus? Sie fand mich immer, sprang an mir hoch, natürlich das unvermeidliche Naselecken, Freude, Leben, Bellen, ich hab dich gefunden, du bist noch da, dann wieder vorwärts, schnuppernd, witternd, lesend.
Paco, deine Lebendigkeit, deine unabhängige wilde Abhängigkeit, deine Kraft und Geschmeidigkeit, dein Blick werden mir unvergesslich bleiben.