Wolfsfreundschaft

Eine kleine Geschichte für Kinder - erzählt von Barbara Kenner ...

Teil 1: Eine Geburt

Es war an einem warmen Frühlingstag. Es war Anfang Mai und die Sonne wärmte den grünen Waldboden und machte ihn weich und kuschelig. Und in einer schönen, kleinen Ecke unter einer zu Boden hängenden Fichte lag ein Reh mit einem kleinen, neugeborenen Kitz. Um diese  beiden herum saßen eine ganze Menge Tiere und waren sehr still.

„Wie soll es denn heißen ?“ sagte der sehr alte Hase Ranunkel. Die Rehmutter war dabei, ihr Baby liebevoll abzuschlecken. Sie unterbrach sich und sagte „Anneliese ist doch ein schöner Name, oder ?“ Und wieder kehrte Stille ein. „Also sowas habe ich noch nie gesehen!“ rief der große Uhu Ombol. Alle anderen nickten einmütig mit den Köpfen. 
 „Was hast du noch nie gesehen ?“ fragte Alva, das Reh.„Na ja, also, das..... also, dein Kitz ist grün!“ stotterte Ranunkel. Und wieder nickten alle mit den Köpfen.

Während die Rehmutter weiter in aller Ruhe ihr Kitz abschleckte, wurde dessen Fell immer trockener und damit auch immer grüner. Das kleine Kitz hatte ein leuchtend grünes Fell, eine dunkelgrüne Nasenspitze und genauso dunkelgrüne Hufe. Und an den Spitzen seiner kleinen süßen Ohren waren ebenfalls dunkelgrüne Puschel. Eigentlich war es ein wunderschönes kleines Kitz, nur eben grün.

Anneliese richtete ihre Augen auf die umstehenden Tiere, da war der braune Hase Ranunkel, der dunkelbraune Uhu mit etwas helleren Federn, aber doch vorwiegend braun, ihre Mutter Alva, auch braun, wenn auch mit weißem Bauch, das Wildschwein Edelgard, eine sehr schöne Wildsau mit – braunen Borsten auf dunkelbrauner Schwarte, Mathilde, die Rothirschkuh, in rötlich – braun, die Brandmaus Iris mit nussbraunem Fell mit einem kleinen schwarzen Strich auf dem Rücken – kurz und gut, alle anderen waren braun, unterschiedlich zwar, aber eindeutig braun.
„Schöne Farbe, oder ?“ Alva stupste Annelieses leuchtendgrüne Ohren liebevoll an. 
„Also ich find’s total schick!“ Edelgard kam bewundernd näher. „So was habe ich bis jetzt nur bei Menschen gesehen. Und ich habe mich schon oft gefragt, wie das wohl kommt.“
„Ja, aber das geht doch nicht!“ jammerte Iris, die Brandmaus. „Rehe waren doch immer braun, vielleicht mal sehr dunkelbraun, fast schwarz schon, vielleicht auch mal etwas heller – aber immer braun! Ein grünes Tier – wo soll denn das hinführen ? Also von sowas halte ich nichts!“ „Na ja“ – sagte Ranunkel, „es is‘ wie es is‘- umtauschen können wir es ja auch nicht mehr. Jetzt muss es wohl so bleiben.“ „Jetzt habe ich aber die Nase gestrichen voll!“schimpfte Alva. „Als wenn Ihr euch aussuchen könntet, wie Anneliese aussieht! Das hier ist kein Kaufladen. Ich habe ein wunderschönes Kind bekommen und bin stolz darauf! Und wenn Euch das nicht passt, ist das nicht unser Problem!“

Anneliese betrachtete die ganze Bande mit großen glänzenden Augen. Sie hatte gar nicht so recht mitbekommen, was los war. Sie hatte sich an der weichen warmen Schnauze Ihrer Mutter gefreut und langsam Hunger bekommen. Und deshalb stellte sie sich jetzt das erste Mal in ihrem jungen Leben auf die noch recht wackeligen Beine und stupste ihre Mutter an den Bauch. Sie fand es war jetzt Zeit zum Trinken. Und als sie die ersten schmatzenden Laute von sich gab, seufzten alle Tiere gerührt auf. Sie sah aber auch zu niedlich aus mit ihrem grünen Fell – anders zwar, aber wunderbar.

Und von dem Tag an gab es in der Göhrde ein grünes Reh namens Anneliese.