Wolfsfreundschaft

Eine kleine Geschichte für Kinder - erzählt von Barbara Kenner ...

Teil 3: Annelieses neue Bekanntschaft

Eines Tages lief Anneliese munter durch den Wald, wieder einmal auf dem Wege zu ihrem Freund Ranunkel, als sie ein Stöhnen hörte, sehr dunkel und fast wie ein Knurren. Sie fand es etwas unheimlich, aber da sie bisher keine Feinde kannte – bis auf die Jäger - aber die sahen sie im Sommergrün nie – näherte sie sich vorsichtig der Stelle, von der das Knurrstöhnen kam.

Es wurde auch irgendwie lauter. Und dann sah sie ein wenig grauen Pelz, ein zusammengeringeltes, großes, graues Etwas, das einen etwas auffallend unangenehmen Geruch verströmte.
„Hallo, wer bist du? Tut dir etwas weh?“
„Zum Teufel, und wer bist du? Und wie siehst du überhaupt aus? So was habe ich ja noch nie gesehen!“ 
Anneliese war etwas beleidigt. Da wollte sie schon freundlich auf dieses fremde, stinkende Wesen zugehen und dann so angeschnauzt zu werden! Sie wollte gerade wieder gehen, da knurrstöhnte das Wesen noch einmal.
„Ich bin Anneliese und wohne hier im Wald – und du?“
„Das kann doch nicht wahr sein – bist du etwa ein Reh?“
„Was soll denn daran nicht wahr sein – natürlich bin ich ein Reh – das kannst du doch sehen. Und wenn Dich meine grüne Farbe stört, bist Du selber schuld – ich find das gut so und meine Freunde finden mich schön – so wie ich bin."
„Ein Reh – ach du Scheiße!“
„Also ich finde du bist ein ziemlich unhöfliches Tier – was auch immer du für eins bist. Hast du was gegen Rehe oder was?!“
Und wieder knurrstöhnte das Tier und hatte offensichtlich starke Schmerzen. 
„Was hast du denn, tut Dir etwas weh?“
„Ich glaube, ich habe mir den Vorderlauf verstaucht; ich bin gestolpert und in ein Loch gefallen.“
„Zeig mal, vielleicht können wir ja etwas tun.“
Und das Tier drehte sich mit großen Schwierigkeiten zur Seite und zeigte seinen Vorderlauf, der im Vergleich zum anderen doch deutlich dicker aussah. 
„Weißt du was? Meine Mama holt mir immer schönes feuchtes Moos, wenn ich mir was getan habe. Soll ich Dir auch welches holen?“
„Na ja, schlimmer kann es ja auch nicht mehr werden.“
„Also höflich bist Du wirklich nicht!“
Aber Anneliese hatte ein weiches Herz und wollte gerne helfen. Also holte sie Moos und stupste es vorsichtig mit der Schnauze unter den Vorderlauf. Danach rupfte sie noch ein besonders schönes großes Büschel und legte es darüber, so dass der ganze Vorderlauf gut eingepackt war. 
„Also, das fühlt sich ganz schön gut an.“
„Danke sagen fällt Dir wohl auch schwer! Und könntest Du mir jetzt endlich sagen wer du bist?“
„Mein Name ist Griesgram. Und ich bin der schnellste, fürchterlichste, grausamste Wolf, der je über die Elbe gekommen ist. Und dass ich jetzt hier liege und mir ausgerechnet von einem Reh helfen lassen muss, finde ich mehr als peinlich!“
„Wieso denn das?“
„Ja hast du denn gar keine Ahnung? Weißt du nicht, was Wölfe so fressen?“
„Na ja, vielleicht schöne Gräser oder ein paar Buchenblätter?“
„Oh nein, jetzt bin ich auch noch bei dem dämlichsten Vieh des Waldes gelandet! Gräser! Blätter! Rehe fressen wir und Hasen!“
Anneliese lachte laut auf „Rehe und Hasen! Du hältst mich wohl für sehr blöd! Niemand frißt Rehe und Hasen, ausser den Menschen vielleicht. Und ganz früher hat meine Mama mir erzählt, da gab es hier große Tiere die auch Rehe fraßen, Bären und so andere.“
„Und was meinst du wohl, wie die anderen geheissen haben? WÖLFE!“
„Oh!“
„Ja, Oh!“
„Und warum hast du mich nicht gefressen?“
„Na ja, ich brauchte Hilfe –„ knurrte der Wolf. Und außerdem bist du ein wirklich sehr schönes Reh – mit deinem grünen Pelz.“
„Danke.“ sagte Anneliese, „aber was mache ich jetzt mit Dir? Wenn ich Dich gesund pflege, frisst Du mich vielleicht auf oder meinen besten Freund, Ranunkel.“
„Wer ist denn nun schon wieder Ranunkel?“
„Ein Hase, ein sehr lieber, wenn auch schon etwas alter Hase.“
„Oh nein, ich, Griesgram der Gefürchtete lasse mich mit Rehen und Hasen ein! Aber sei’s drum, Du hast mir geholfen, ich werde weder Dir noch Deinem Freund ein Leid tun. Ihr steht unter meinem Schutz.“
„Danke, Griesgram, das ist sehr nett von Dir.“ Eine kleine Pause breitet sich aus in ihrem Gespräch. „Du, Griesgram, ich habe ein Problem.“
„Was ist denn nun schon wieder los?“
„Du bist doch jetzt ganz schön hungrig, oder?“
„Klar, was denkst du denn, nach einer Woche nix zu fressen? Wölfe können zwar ganz gut fasten, aber irgendwann brauchen auch wir wieder etwas zu fressen.“
„Na ja, ich habe nicht nur einen Freund, ich habe auch noch Eltern,....“
„Oh, nein, was habe ich mir denn da aufgehalst! Soll ich jetzt etwa bei jedem Reh, dass ich fressen will, kurz vorher fragen, ob es zufällig ein Freund von Dir ist? Wie soll ich denn da jemals wieder etwas in den Magen kriegen?“
„Also, ich hätte da eine Idee, du frisst einfach keine Rehe und Hasen mehr.....“
Ein Kichern war zu hören, sehr hell und sehr melodisch. Eine kleine Fee, die im Hintergrund saß, bekam gerade einen Lachanfall.
„Siehst Du! So weit ist es mit mir schon gekommen, jetzt lachen mich schon die Feen aus!“
„Ach Griesgram, vielleicht hat sie ja eine Idee, wie das gehen könnte. Fee, komm doch mal näher! Ach, Du bist es Désirée, ich habe ein Problem. Kannst Du uns nicht helfen? „
„Anneliese, du weißt doch, das alles seine Ordnung hat im Walde. Wir kommen, wir gehen, wie die Blätter an einem Baum. Bist Du Dir sicher, dass Du das ändern willst? Du hast einen wunderbaren neuen Freund gefunden, etwas schlecht gelaunt vielleicht, und auch etwas ungewöhnlich für ein Reh.“ Sie kicherte wieder „aber ich glaube, mehr solltest Du nicht verlangen von ihm.“
Und Anneliese kümmerte sich jeden Tag um Griesgram, wechselte das Moos, bis er wieder laufen konnte. Da war er dann schon sehr abgemagert und wollte sich dringend auf die Jagd begeben.
Traurig sagte Anneliese ihrem neuen Freund auf Wiedersehen, denn sie hatte ihn liebgewonnen.