Wolfsfreundschaft

Eine kleine Geschichte für Kinder - erzählt von Barbara Kenner ...

Teil 8: Ranunkel geht

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Besonders schwierig war dieser Winter aber für Annelieses Freund, Ranunkel. Er war ein sehr alter Hase, und das kalte Wetter tat ihm weh in seinen Knochen. Auch das Scharren fiel ihm immer schwerer, und so wurde er immer dünner. Anneliese half ihm, wo sie konnte, suchte Triebe und Hälmchen für ihn oder brachte ihm etwas von dem Menschenfutter, dass ihre neue Freundin ihr brachte. Nachts legte sie sich zu Ranunkel, um ihn zu wärmen und die beiden erzählten sich Gute – Nacht -  Geschichten. Aber morgens war es schwer für Ranunkel, aufzustehen, seine Gelenke taten weh von der Kälte und sich bewegen war schmerzhaft. Eines Tages konnte er sich kaum noch bewegen.

„Anneliese, du hast doch ein Abkommen mit Griesgram ? Dass er mich nicht frisst ?“
„Ja, gut, nicht wahr, ich habe ihm gesagt,  meine Freunde und Eltern darf er nicht fressen.“
„Anneliese, ich möchte, das Du ihn von dem Versprechen entbindest. Mir geht es nicht gut und für mich kommt die Zeit, ich will gehen.“
„Wie bitte, wo willst Du denn hingehen ? Du bist doch mein bester Freund, ich will  nicht dass Du weggehst und was soll Griesgram damit zu tun haben ?“
„Ich werde sterben, und entweder werde ich das langsam und qualvoll tun, oder Griesgram hilft mir. Alle Tiere kommen auf diese Erde, werden geboren, verleben ihre Zeit hier und dann wird es wieder Zeit zu gehen, wie die Blätter am Baum. Meine Zeit ist gekommen. Für mich ist das Leben hier beschwerlich und anstrengend, ich kann nicht mehr richtig laufen, ich bekomme nicht mehr richtig Luft, die Dinge, die mir früher so viel Spass gemacht haben, wie Haken schlagen, hüpfen, Purzelbäume machen, vor denen graut mir eher. Meine Zeit hier mit Euch geht dem Ende zu. Und ich will auch wissen, was kommt nach dem Leben hier. Werde ich als Hase wiedergeboren ? Gehe ich in den Hasenhimmel ? Meine Seele ist neugierig und will schauen, was kommt danach, mein Körper ist mir beschwerlich.“

Anneliese schaute ihren alten Freund an und Trauer überkam sie. Ja, sein Fell war an vielen Stellen nicht mehr voll, sondern hatte kahle Stellen, er zitterte vor Kälte. Und dass er nicht mehr spielen konnte, war ihr auch schon aufgefallen. Aber sie wollte ihn nicht verlieren, sie liebte ihn. 

Ranunkel sah ihr diese Gedanken an. „Anneliese, ich liebe Dich auch. Und Du hast die letzte Zeit meines Lebens so schön gemacht. Es war so wundervoll mit Dir zusammen, ich habe es mit meinem Herzen und meinem Körper genossen. Auch die Zeit, in der Du Dich so liebevoll um mich gekümmert hast. Ich bin alt, sehr alt und es ist schön zu wissen, dass meine liebste Freundin mir hilft. Aber jetzt geht es nicht mehr, ich bin zu krank. Und wenn ich kann, werde ich Dich besuchen, wo auch immer meine Seele hingeht, was auch passiert. Bitte sage doch Griesgram Bescheid.“
Ein letztes Mal kuschelten sich die beiden zusammen, dann ging Anneliese zögernd davon. Griesgram war zuhause, er sah sofort, dass seine Freundin etwas sehr schweres auf dem Herzen hatte. Und er bewunderte sie, für ihren Mut, fest zu den Wünschen ihres Freundes zu stehen. Sofort machte er sich auf den Weg.
Und dann trat er aus dem Gebüsch, der große graue Wolf, direkt vor den Hasen. „Du hast mich gerufen ?“ „Ja, aber ich habe Angst !“ zitterte Ranunkel. Fast ein zärtliches Schnurren kam aus Griesgrams Kehle. „Ich biete Dir einen letzten Lauf, den größten Lauf Deines letzten Jahres, denn die Angst macht Dich schnell und Du wirst fliegen über die Erde, wie Du es lange nicht getan hast. Ich werde schnell sein und geschickt, du wirst nicht leiden. Dies ist meine Aufgabe.“

Er näherte sich Ranunkel und blies ihn mit seinem Wolfsatem an, und es war wie gesagt, die Angst ließ Ranunkel laufen, so schnell, oh so schnell, die Erde flog unter ihm dahin, er wußte gar nicht mehr, dass er so schnell laufen konnte, laufen, diese Lust, diese Wonne, und dann war da der Biss, der so schnell kam, mitten im Lauf und sein Leben war beendet.
Anneliese weinte, nicht weil sie Angst um Ranunkel hatte, aber weil sie ihn vermisste, und all die Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, spielend, tollend, kuschelnd.